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Von Grindhouse bis Arthouse...
Besprechungen übersehener, unterbewerteter oder obskurer Werke der Filmgeschichte!

Dienstag, 28. August 2012

Wenn die Muzak leise säuselt...

Decoder
BRD 1984
R.: Muscha (Jürgen Muschalek)



Worum geht's?: Der Tontüftler F. M. (FM Einheit) entdeckt, dass nicht nur er mit seinen elektronischen Musikspielereien das Handeln der Leute auf der Straße beeinflussen kann; vielmehr muss er zu seinem Schrecken erkennen, dass dieses Prinzip von der Fast-Food-Kette H-Burger anscheinend bereits in einem großen Rahmen an ihren Kunden praktiziert wird.
Durch verschlüsselte Signale innerhalb der in ihren Restaurants spielender Hintergrundmusik werden die Konsumenten zu weiterem, friedlichen Konsum genötigt.
Auf einem Streifzug durch die Großstadt trifft F. M. auf ein sektenartiges Musik-Kollektiv, dessen Hohepriester (Genesis P. Orridge) ihm weitere Informationen liefert, um das Prinzip als Waffe gegen die Manipulierer einsetzen zu können.
Nach einigem Experimentieren (auch mit dem Quaken eines erdrückten Frosches) gelingt es ein Signal aufzuzeichnen, welches von einigen Mitstreitern F. M.s zunächst in verschiedenen Filialen großer Fast-Food-Ketten abgespielt wird, woraufhin die Gäste fluchtartig die Lokalitäten verlassen.
Während der zwielichte Jäger (William Rice) von Vertretern der Wirtschaft auf F. M. angesetzt wird, kommt es in den Straßen ganz Deutschlands zu Massenunruhen und Aufständen junger Leute.
Alles scheint in Chaos, Gewalt und Anarchie zu versinken - nur der von Jägers allgegenwärtigem Überwachungsapparat längst aufgespürte F. M. möchte eigentlich nur noch zu seiner Freundin (Christiane Felscherinow)...

Wie fand ich's?: Die Besetzung ist grandios gewählt - FM Einheit Ex-Mitglied der auch im Ausland viel beachteten Band Einstürzende Neubauten, die ebenfalls allseits bekannte Christiane F. in der Rolle seiner Freundin, der Industrial-Gott Genesis P. Orridge in einem Cameo, ebenso wie Beatpoet und Ikone William S. Burroughs in einer kurzen Sprechrolle...
Die Story besitzt jegliches Potenzial - subversive Botschaft trifft auf surrealen Inhalt, Aufruf zum Straßenkampf auf Zeitkolorit der 80er, Paranoia auf Subkultur, Schamanismus auf Betonschlucht...
Der visuelle Stil - grell bis grau, alles mit ständig mit Farbfiltern in Primärfarben getaucht, die Kamera mal still, dann entfesselt, in seinen besten Momenten wird man an einen frühen Lynch erinnert...
Die Musik - Soft Cells sleazy Synthie-Pop-Hymne Seedy Films von 1981 unterstreicht fantastisch die schwülen Szenen, in denen William Rice die Peepshows und Eros-Centren Hamburgs heimsucht...
Warum also - warum ist dieser Film, der zum einen in seinen kafkaesken Teilen fast urdeutsch wirkt, zum anderen eine genaue Momentaufnahme der Befindlichkeiten des Undergrounds zur Mitte der 80er Jahre bietet, heute fast gänzlich in Vergessenheit geraten?
Mitinszeniert und -produziert wurde Decoder vom Exschlagzeuger und -manager der Toten Hosen Trini Trimpop, der mit dem Regisseur Muscha (bürgerlich: Jürgen Muschalek) befreundet war und zusammen mit ihm 1980 für den ebenfalls gänzlich von der Bildfläche verschwundenen Vorgänger-Film Humanes Töten sogar für den Max-Ophüls-Preis nominiert war.
Ein weiteres Rätsel ist mir, warum man nach Decoder nichts mehr von seinem Regisseur bis zu dessen erschreckenden Freitot durch Erhängen im Jahr 2003 hörte. Beim Rezensenten werden an dieser Stelle Erinnerungen an Iván Zulueta, den Regisseur des ebenfalls lange verschollenen 1980er Kultfilms Arrebato (s. h. http://dieseltsamefilme.blogspot.de/2012/05/arrebato.html), wach, doch liegt es mir fern, hier weitere Vermutungen anzustellen...
Nun bleibt mir nur noch, uns allen eine anständige DVD-Veröffentlichung von einem Label, dass seine Filme ernstnimmt, zu wünschen... Bildstörung, das ging an Dich!

Fazit: Vergessenes Punk-Kunstkino aus Deutschland - hochaktuell und punkig im Kern, wunderbar gestriger 80ies Charme an den Außenseiten...

Punktewertung: 8,25 von 10 Punkten