Egal ob Exploitation, Gialli, Horror oder Sci-Fi...
Von Grindhouse bis Arthouse...
Besprechungen übersehener, unterbewerteter oder obskurer Werke der Filmgeschichte!

Sonntag, 25. Mai 2014

Ungewohnte Schattenspiele

Rififí en la Ciudad (aka. Chasse à la mafia)
E/F 1963
R.: Jesús Franco


Worum geht's?: Ein ungenanntes Land in Mittelamerika zu Anfang der 60er Jahre.
Alle Frauen lieben Juan (Serafín García Vázquez), den neuen Barmann im Nachtclub Stardust.
Doch Juan hat noch einen anderen Arbeitgeber: den engagierten Polizisten Miguel Mora (Fernando Fernán Gomez). In dessen Auftrag bespitzelt Juan seinen Chef Puig (Robert Manuel) und stößt dabei tatsächlich auf eine Verbindung zum mächtigsten Bürger der Stadt: Maurice Leprince (Jean Servais). Der französische Einwanderer befindet sich auf den Sprossen der politischen Karriereleiter stramm auf dem Weg nach oben, nutzt jedoch das Stardust als Umschlagplatz für größere Mengen Kokain.
Kaum hat der zarte Jüngling seine Entdeckung übers Telefon seinem väterlichen Boss mitgeteilt, da verschwindet er auch gleich spurlos. Aufgebracht und besorgt rast Mora zu Leprince und droht diesem, sollte der Politiker Juan etwas antun lassen.
Noch am Abend des gleichen Tages wird die Leiche seines Protegés zum Schrecken Moras und seiner Ehefrau (Laura Granados) diesem durch die Eingangstür geworfen. Geschockt schwört der sonst so harte Bulle Rache, doch er ist offenbar nicht der Einzige, denn jemand tötet von nun an mit einem Klappmesser sukzessiv die Mörder Juans und raunt diesen kurz zuvor jeweils die Worte ins Ohr: „Erinnerst Du Dich an Juan Solano?"



Wie fand ich's?: Als bekennender Fan der Werke Jess Francos (*12.05.1930; †02.04.2013) bekommt man oft die Frage zu hören: „Hat der eigentlich je einen wirklich guten Film gemacht?"
Diese Frage mag oberflächlich betrachtet nicht ganz unverständlich sein, ist Franco doch für die meisten Uneingeweihten der obsessive Vielfilmer (die IMDb listet mittlerweile - ein Jahr nach seinem Tod - 201 Regiearbeiten unter seinem Namen), der in seinem Gesamtwerk fast alle Filmgenres bedient hat: vom Krimi zum Söldnerstreifen, vom Softsexgrusler zum Kannibalenfilm, vom Woman-in-Prison-Beitrag zum Western (ja, den gab es doch: Im selben Jahr schuf Franco neben dem hier besprochenen Rififí en la Ciudad  auch den  El Ilanero [E 1963]) bis hin zum Hardcoreporno.
Für manche war Franco ein fast wahnsinniger Getriebener mit klaren sexuellen Obsessionen, für andere war er ein Kunst schaffender Filmkreativer jenseits des Mainstreams, für die Kritiker Rolf Giesen und Ronald M. Hahn war er in deren Buch Die schlechtesten Filme aller Zeiten der "King of Trash", für Alejandro Jodorowsky ist er laut einem Interview der Zeitschrift Deadline der "talentierte Primitive", der immerhin 2009 in seiner spanischen Heimat doch noch einen Goya für sein Lebenswerk erhielt.
Doch gibt es nun einen Film von Franco, den man wirklich jedem Zuschauer guten Gewissens empfehlen kann? Den Film des Meisters, den man auch Vati, Mutti und dem Nachbarn ans Herz legen kann?
Die Antwort ist: ja, es gibt ihn. Rififí en la Ciudad ist ein inhaltlich wie handwerklich absolut solide inszenierter Gangsterfilm im Stil des Film-noir, der es durchaus mit anderen Beiträgen zu diesen Genres aufnehmen kann. Sicher, ihm fehlen die GANZ großen Ideen, um ihn in den Pantheon zu heben, aber: er ist einfach als rundum gelungen und sehenswert anzusehen. Und das auch für ein lediglich ans Hollywood-Kino gewöhntes Publikum. Näher kam Franco insgesamt nie der US-Traumschmiede oder den französischen Gaunerstreifen der 50er Jahre.
Das Rififí en la Ciudad inhaltlich gelungener und elaborierter ist als andere Werke Francos, mag daran liegen, dass es sich hier um eine Verfilmung eines preisgekrönten Kriminalromans des französischen Schriftstellers Charles Exbrayat mit dem Titel Vous souvenez-vous de Paco? aus dem Jahr 1958 handelt. Franco übernahm die Grundzüge des Romans nach leichten Änderungen (er verlegte die Handlung z. B. vorsichtigerweise vom heimischen Barcelona in eine weit entfernte, mittelamerikanische Bananenrepublik und machte aus dem Paco des Titels einen Juan) und hatte so ein stabiles und erprobtes Grundgerüst für sein Projekt.
Selten habe ich zudem einen Film Francos gesehen, der so eindrucksvolle Bildkompositionen bietet (nun ja, Miss Muerte [E/F 1963 dt.: Das Geheimnis des Dr. Z] wäre ein weiterer...), perfekt ausgeleuchtet wurde und auf Francos berühmte Zooms verzichtet.
Wer jedoch nach den klassischen Trademarks aus Onkel Jesses Frühphase sucht, wird trotzdem in den ausgedehnten Gesangsszenen mit der lasziven Maria Vincent fündig, erkennt das geraunte, weibliche Voice-Over aus zahlreichen späteren Werken Francos wieder oder lässt den Fuß wissend zum jazzigen Score seines Langzeitkollaborateurs Daniel White wippen.
Das, was einem wahren Fan jedoch in diesem Hochglanzstreifen fehlt, ist Francos Frönen seiner Obsessionen (Damen in allen Arten von Bedrängnissen) oder seine oft sehr kreativen Versuche aus einem gefühlten Budget von 500 $ einen bunten Trivialfilm zu schustern. Wer solches sucht, möge den beiden anderen in diesem Blog bereits zuvor besprochenen Francowerken einen Blick gönnen: Die sieben Männer der Sumuru und dem im gleichen Jahr entstandenem Rote Lippen, Sadisterotica.
Der Titel des Films scheint in erster Linie den großartigen Jean Servais bewerben zu sollen, hatte dieser doch hohe Popularität im Gangsterfilm der 50er-Jahre durch seine Hauptrolle in Jules Dassins Meisterwerk Du rififi chez les hommes (F 1955 eur.: Rififi) erlangt und der Ausdruck Rififi (aus dem Französischen: etwa Krach, Streit, Radau, Krawall) war europaweit jedem Kinogänger ein Begriff geworden.



Fazit: Nicht der unterhaltsamste Franco, nicht der kreativste Franco, nicht der sexieste, nicht der aufregendste oder provokanteste Franco - aber vermutlich einfach der handwerklich bestgemachteste Franco.



Punktewertung: 7,25 von 10 Punkten

Sonntag, 18. Mai 2014

Von Liebe, Hot Dogs und anderen exzentrischen Dingen...

Minnie and Moskowitz (Minnie und Moskowitz)
USA 1971
R.: John Cassavetes


Worum geht's?: Seymore Moskowitz (Seymore Cassel) ist ein lebenslustiger Exzentriker mit wildem Oberlippenbart, der sich sein Auskommen nebenbei als Parkwächter verdient. Als seine Mutter sich über seine Lebensumstände Sorgen macht, zieht er spontan nach Kalifornien, um dort sein Glück bei größeren Restaurants zu versuchen. Hier trifft er auf die kultivierte und einige Jahre ältere Museumsangestellte Minnie Moore (Gena Rowlands), deren Liaison mit einem verheirateten Mann (John Cassavetes) gerade zerbricht und die sich vom Leben allgemein und von der Liebe im Besonderen frustriert zeigt.
So möchte sie den stets etwas überdrehten, ungestümen Parkwächter möglichst schnell wieder loswerden, doch Moskowitz ist die Hartnäckigkeit in Person und ist es nicht gewöhnt ein Nein als Antwort zu akzeptieren, ja, er ist sogar bereit, für seine Liebe zu dieser so unterschiedlichen Frau gleich mehrfach Prügel zu beziehen.
Moskowitz, der zu dem Schag von Menschen gehört, die selbst am verrückten Gerede einer Zufallsbekanntschaft (Timothy Carey) am Nebentisch eines Esslokals noch Interesse besitzen und auch sonst spontanen Kontakt zu wildfremden Leuten sucht, ist bereit um seine neue Liebe auf den ersten Blick zu kämpfen. Über alle Schwierigkeiten hinweg - koste es was es wolle!



Wie fand ich's?: John Cassavates sagte einmal: „Ich mache gern schwierige Filme, bei denen die Leute schreiend rauslaufen. Ich bin schließlich nicht in der Unterhaltungsbranche".
Nun, der hier besprochene Film zählt sicher zu seinen zugänglichsten Arbeiten und ist vollkommen in der Lage sein Publikum zu unterhalten.
Erzählt wird die Liebesgeschichte zweier Menschen, die auf den ersten Blick recht unterschiedlich sind, doch wie sagt man so schön: „Unterschiede ziehen sich an", und es ist dem Betrachter außerdem schnell klar, dass diese beiden, leidgeprüften Protagonisten genau jenen Gegenpol in ihrem Dasein zum Überleben benötigen.
Neben der dramatischen Liebesgeschichte mit ihren liebenswerten Figuren berichtet Cassavetes, der in seinen Filmen immer sein Herz für Aussenseiter und Randexistenzen zeigte, von der Einsamkeit an den Hot Dog-Ständen der Großstadt und den aufgesetzten, bürgerlichen Fassaden der sogenannten "besseren" Schichten.
Cassavetes, ganz der Familienmensch, besetzte in der weiblichen Hauptrolle wie so oft seine Gattin Gena Rowlands, daneben seine eigene Mutter sowie Schwiegermutter und seine Kinder in zahlreichen Nebenrollen. So wurde der Dreh des, für das Budget von unter einer Million Dollar recht preiswert inszenierten Films, wohl zu einem großen Happening mit ganzen der Familie.
In der Rolle eines sonderlichen Restaurantgastes tritt zu Anfang des Films der wunderbare Timothy Carey auf, der sich durch zahlreiche aufsehenerregende Nebenrollen (u. a. unter der Regie von Stanley Kubrick und in der einzigen Regiearbeit Marlon Brandos) und seinem legendären Regiedebüt The World's Greatest Sinner (USA 1962) eine Reputation als Hollywoods Chefexzentriker aufgebaut hatte. Carey brilliert als irrer Loser mit Augenringe, die ihresgleichen suchen und muß genug Eindruck bei Cassavetes hinterlassen haben, um fünf Jahre später in dessen The Killing of a Chinese Bookie (USA 1976 dt.: Die Ermordung eines chinesischen Buchmachers) wieder aufzutauchen.
Dies tat auch der vielbeschäftigte Seymore Cassel, der zuvor bereits in Cassavetes Regiedebüt Shadows (USA 1959 dt.: Schatten) einen nicht in den Credits genannten Auftritt hatte und für seine Rolle des Chet in Cassavetes Faces (USA 1968 dt.: Gesichter) eine Oscar® Nominierung abräumt hatte.
Leider hat Minnie and Moskowitz neben seinem ehrlichen Witz und seinem tollen Cast auch einige Probleme im letzten Drittel des Films aufzuweisen und wird dort leider für meinen Geschmack etwas unnötig langatmig und doch noch leicht pathetisch.
Trotzdem bleibt ein wunderschöner Film über eine Liebe gegen alle Widrigkeiten in einer jener Großstädte, die niemals schlafen.


Fazit: Aufrichtig (und) menschlich - komisch (und) dramatisch. Ein kleines Meisterstück mit leichten, verzeihlichen Längen im Schlussakt.



Punktewertung: 8 von 10 Punkten

Sonntag, 11. Mai 2014

Zur letzten Zugabe gab's noch mal Bewährtes...

Murder obsession (Follia omicida) aka. The Wailing aka. Delirium aka. Fear
I/F 1981
R.: Riccardo Freda


Worum geht's?: Michael, ein junger Schauspieler, kehrt zusammen mit seiner neuen Freundin Shirley (Martine Brochard) und einer Reihe von Freunden aus dem Filmgeschäft (darunter u. a. Laura Gemser) in das elterliche Herrenhaus zurück, in dem er seine Kindheit verbracht hat.
Hier soll er vor Jahren seinen Vater erstochen haben, nun lebt dort seine schöne Mutter (Anita Strindberg) und der sonderbare Hausdiener Oliver (John Richardson).
Bald kippt die ausgelassene Stimmung der Gruppe jedoch in eisige Furcht, wird doch das Grüppchen langsam und sukzessiv von einem Killer dahingemetzelt.
Ist Michael tatsächlich ein wahnsinniger Mörder und welche Bedeutung haben die grotesken Alpträume seiner schönen Freundin?
Die verstörenden Antworten auf diese Fragen warten in den kühlen, Spinnweb verhangenen Katakomben unter dem pittoresken Familiensitz...



Wie fand ich's?: Dies ist bereits der dritte Film von Riccardo Freda in diesem Blog (s. h. I Vampiri und Estratto dagli archivi segreti della polizia di una capitale europea). Es sollte der letzte Film sein, an dem der alte Meister von Anfang bis Ende beteiligt war; dreizehn Jahre später wurde er im Alter von immerhin 84 Jahren bei den Arbeiten zu La fille de d'Artagnan [F 1994 dt.: D'Artagnans Tochter] mal wieder nach nur wenigen Tagen während des Drehs gefeuert und Bertrand Tavernier stellte an seiner statt den Film fertig. Damit wiederholte sich zum Ende seiner Karriere noch einmal das alte Spiel, wegen dessen schon sein früherer Kameramann Mario Bava fünfundzwanzig Jahre zuvor zum Regisseur berufen worden war.
In Murder obsession findet man so auch gleichermaßen Elemente sowohl des Gothic Horrors, wie des Giallo, beides Genre in denen Freda ebenso wie Bava sehr erfolgreich gearbeitet hatten. War sein Schüler bereits 1980 verstorben, unterbrach Freda seinen eigentlich bereits 1972 gewählten Ruhestand nach guten acht Jahren für ein einträgliches Comeback. Tatsächlich kann man Murder obsession als ein Best Of aus Teilen seines früheren Schaffens betrachten. Da ist das alte Haus aus I Vampiri, L' orrible segreto del Dr. Hichcock (I 1962 int.: the Terror of Dr. Hichcock) und Lo spettro (I 1963 int.: The Ghost), da sind der Gore aus L'iguana dalla lingua di fuoco (I/F/BRD 1971 dt.: Die Bestie mit dem feurigen Atem) und die Satansanbeter aus Tragic Ceremony.
Giallo-Ikone Anita Strindberg gibt die seltsame Gräfin als MILF vom Dienst und ist lustigerweise in Realität nur läppische sieben Jahre älter als ihr Filmsohn Stefano Patrizi. Murder Obsession sollte ihr letzter Film werden, bevor sie sich vollkommen aus dem Filmgeschäft zurückzog.
Laura Gemser befand sich 1981 auf dem Höhepunkt ihrer Karriere (oder bereits einen Schritt darüber hinaus...) und war als Black Emanuelle zur internationalen Größe im Sexploitationfilm der 70er geworden, in Murder Obsession bietet sie angenehmes Eye-Candy für die männlichen Zuschauer.
Am Anfang seiner Karriere hingegen befand sich ein zur Zeit der Dreharbeiten 23-jähriger Sergio Stivaletti. Zusammen mit Angelo Mattei war der Newcomer unerwähnter Weise für die saftigen Gore-FX zuständig, konnte aber den alten Hasen Freda letztendlich nicht von seinem Wirken überzeugen, wovon er belustigt im Bonusmaterial zu der in Italien und den USA veröffentlichten DVD des Labels Raro Video erzählt. Trotzdem wurde Stivaletti schon bald zur italienischen Special-FX-Ikone und arbeitete in den folgenden Jahren und Jahrzehnten für solche Größen wie Dario Argento, Lamberto Bava, Sergio Martino oder Michele Soavi (er schuf u. a. die animatronischen Effekte für La setta), bevor er 1997 zum ersten Mal bei der gelungenen, ursprünglich für den schwer kranken Lucio Fulci vorgesehenen, Phantom-der-Oper-Variation M.D.C. - Maschera di cera (I/F 1997 dt.: Wax Mask) regieführte.
Zwei Jahre nach der Premiere von Stivalettis Regiedebüt verstarb Riccardo Freda, der zusammen mit seinem Spezi Mario Bava die ersten und vielleicht besten Horrorfilme im Italien der Nachkriegszeit schuf, im gesegneten Alter von neunzig Jahren kurz vor dem Millennium am 20. Dezember 1999 in Paris.


Fazit: Eine pralle Wundertüte mit allem, was den italienischen Genrefilm berühmt gemacht hat - rot fließt das Blut in schwarzen Gewitternächten.
 

Punktewertung: 7,5 von 8 Punkten

Samstag, 3. Mai 2014

Tom X und die Weltformel

Ein großer graublauer Vogel
BRD/I 1971
R.: Thomas Schamoni


Worum geht's?: Tom X (Klaus Lemke), ein junger Dichter, erzählt bei einer ausgelassenen Party seinen Freunden vom ebenfalls anwesenden Herrn Belotti (Walter Ladengast), einem verstörten, älteren Herrn, der vor Jahrzehnten eine Weltformel entwickelt haben soll.
Aufmerksam geworden, versucht Toms Freund G.O. (Thomas Braut), seines Zeichens Journalist, die Story zu verkaufen, ruft jedoch bei dem Versuch auch eine zwielichtige Gruppe von Gangstern oder Geheimdienstlern auf den Plan.
Unter der Leitung des im Rollstuhl sitzenden Cinque (Lukas Amman) suchen diese ebenfalls nach der Formel und nach Belottis Kollegen, die den Schlüssel zu der in einem Gedicht von Arthur Rimbaud versteckten Erfindung besitzen.
Ständig gefilmt von ihrem Freund Knokke (Bernd Fiedler), machen die Gruppen Aufnahmen von ältliche Passanten; immer auf der Suche nach den nun im Versteckten lebenden Wissenschaftlern - scheinbar wissend, dass sich alle Geheimnisse nur auf Film entblößen.
Realität und Fiktion, Poesie und Paranoia, Gut und Böse verschwimmen. Ein manisches Lachen beendet das verwirrende Schauspiel.


Wie fand ich's?: Ein Film, der mit der Vorführung eines Films anfängt, ein Debüt, in das seine Macher wie so oft alle Ideen auf einmal stopften, als gäbe es kein nächstes Mal.
Thomas Schamoni hat nur wenige Filme als Regisseur geschaffen, bekannter wurde er als Gründer des Filmverlags der Autoren, der in den ersten Jahren aus seiner Privatwohnung heraus agierte.
Klaus Lemke, heute selbst eine Kultfigur des deutschen Films, spielt die Hauptrolle; Robert Siodmak, ebenfalls eine Regielegende, ist zwei Jahre vor seinem Tod hier noch in einem Cameo zu sehen.
Schamonis Film ist ein surrealer Krimi, ein verwirrender Thriller mit Elementen der Mabuse-Filme, der wie Jaques Rivettes Debüt Paris nous appartient auch die Verunsicherung junger Intellektueller in Zeiten des Kalten Krieges und der Studentenrevolten abbildet. Wo Rivette jedoch eine Dekade zuvor ein bedrückendes, langsames, schwarz-weisses Drama ablieferte, da schwirrt Schamonis Film vor Bildern und Eindrücken, vor schnellen Schnitten und einer fast stets unruhigen Tonspur. Anders als Rivette bietet Ein großer graublauer Vogel Action und Schießerei ist also auch ein Genrefilm (oder gibt zumindest vor es zu sein), verstört aber seine Zuschauer mit weiteren Metaebenen.
Kann es sein, dass sich zunächst alles nur im Kopf des Dichters, des wilden Kreativen abspielt und sich das Interesse der Gegenseite nur aus dessen Fiktion nährt? Will der Journalist G.O. also nur eine Fantasterei seines Freundes verkaufen? Doch wenn der heruntergekommene Alte namens Belotti nur ein armer Spinner ist, wer sind dann Cinque und die distinguierten Herren am Ende des Films? Soll das Gedicht Rimbauds mit dem Titel Bottom, aus welchem sich auch der Titel des Films ableitet, und in dem sich eine Formel zur Zeitreise (?) versteckt halten soll, nur ein von Tom X oder Thomas Schamoni geschaffener McGuffin sein?
Der Film beantwortet seine Fragen nicht, weist stattdessen ununterbrochen darauf hin, dass die Realität eine andere Ebene erhält, wenn man sie abfilmt. Pausenlos hält irgendjemand eine Kamera in der Hand oder man sieht Filme im Film - eine ständige Selbstreflexion über das eigene Medium.
Das für den Soundtrack gewählte Lied She Brings The Rain der Krautrocker Can erzählt von Magic Mushrooms - also doch alles nur ein Drogenrausch?
Trotz aller Wirrnisse gelang Schamoni ein unterhaltsames, handwerklich unglaublich selbstsicheres Debüt, das keine Sekunde langweilt und noch heute sehr modern und frisch erscheint.
1970 erhielt Schamoni für die Regie zu Ein großer graublauer Vogel das Filmband in Gold, ebenso wie sein Kameramann Dietrich Lohmann; weiterhin erhielt der Film das Prädikat Wertvoll von der Filmbewertungsstelle.
Das bereits erwähnte Gedicht Bottom von Rimbaud (der auch Dylan und zuvor die Surrealisten beeinflusst haben soll) beginnt mit den Worten: Reality being too thorny for my great personality (etwa: Realität ist zu dornig für meine große Persönlichkeit). Vielleicht erklärt dies nun doch noch alles...


Fazit: Ein wilder Trip auf Zelluloid. Ein Spiel mit Fiktion und Realität, dessen Interpretation beim jeweiligen Betrachter liegt.


Punktewertung: 8,5 von 10 Punkten