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Sonntag, 19. Juni 2016

Das reine Grauen im Blick

Иди́ и смотри́ / Idi i smotri (Komm und sieh['] [BRD] bzw. Geh und sieh [DDR])
UDSSR 1985
R.: Elem Klimov



Worum geht's?: Weißrussland - 1943. Gerade noch ein Gewehr beim Spielen auf einem Feld gefunden, schließt sich der kaum den Kindesbeinen entwachsene Florya (Aleksey Kravchenko) eher unfreiwillig einer Gruppe von Partisanen unter der Führung des charismatischen Kosach (Liubomiras Laucevicius) an.
Gegen den Willen der Mutter zwangsverpflichtet, trifft der naive Junge in einem Waldgebiet auf einen erfahrenen Trupp Freischärler und die schöne, ältere Glasha (Olga Mironova).
Von Kosach und seinen Leuten aufgrund seiner Jugend und Unerfahrenheit jedoch unversehens im Camp zurückgelassen, streift Florya stattdessen ganz von Glashas Schönheit ergriffen ziellos durch den Wald.
Doch, noch bevor sich erste zarte Bande zwischen den beiden jungen Menschen entspinnen kann, werden sie auch schon durch einen Angriff deutscher Fallschirmjäger wieder zurück in die gnadenlose Realität des Krieges gerissen.
Als Florya mit Glasha daraufhin angstgeschüttelt in sein nun menschenleeres Dorf zurückkehrt, beginnt für den längst in den Kriegswirren verlorenen Jungen eine Odyssee an die Ränder seiner physischen wie psychischen Belastbarkeit und sogar noch darüber hinaus.

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Wie fand ich's?: Mit Idi i smotri schuf Elem Klimov (* 1933; † 2003) ein unvergessliches Mahnmal über die Auswirkungen des Krieges auf die Seelen der Opfer.
Bereits gegen Ende der Siebziger Jahre hatte der Regisseur mit den Arbeiten am Film begonnen, konnte aber nicht die Behinderungen durch die Goskino-Behörde, das Staatliche Komittee der UDSSR für das Filmwesen, bewältigen, die das, zunächst noch "Töte Hitler" betitelte, Drehbuch als eine "Ästhetisierung des Drecks" und als zu naturalistisch abtat. Da Klimov keiner Zensur nachgeben wollte, wartete er fast ein Jahrzehnt, bevor er doch noch mit den Dreharbeiten zu Komm und sieh beginnen konnte - es sollte sein letzter Film werden.
Einen Film über die Grauen des Krieges wollte er schaffen, einen Film, der zeigt, dass am Ende alle zu Bestien werden können - Gewalt erzeugt eben immer Gegengewalt.
Im Zentrum des Films steht das Massaker von Chatyn, bei dem 152 weißrussische Dorfbewohner, davon 76 Kinder, von der SS-Sondereinheit Dirlewanger sowie Angehörigen von Wehrmacht und Schutzmannschaften ermordet wurden.
Drehbuchautor Ales Adamovich (* 1927; † 1994) verarbeitete in Komm und sieh seine eigenen Erfahrungen als jugendlicher Partisan in Weißrussland zwischen 1942 bis 1945, was zur allgemein realistischen Gestaltung des Films beitrug.
Da Adamovich wie auch Klimov ein möglichst ungeschöntes, direktes und schonungsloses Bild der Kriegsgräuel und der damit einhergehenden Traumata zeichnen wollte, bemühte man sich sehr aktiv darum den jugendlichen Hauptdarsteller, Aleksey Kravchenko, am Set psychologisch betreuen zu lassen, manchen Quellen zufolge zog Klimov sogar für die letzten Drehtage einen Hypnotiseur hinzu, der es jedoch nicht schaffte, Kravchenko tatsächlich in Trance zu versetzen.
Wie notwendig dies wohl sogar tatsächlich gewesen wäre, lässt sich allein daran festmachen, dass Klimov in zahlreichen Szenen mit scharfer Munition schießen ließ, um die Authentizität des Gezeigten auf ein Maximum erhöhen zu können.
Am Ende des Films sieht man einen ergrauten Jungen, Tränen in den Augen, mit einem Gewehr auf ein gerahmtes Hitlerporträt in einer dreckigen Wasserpfütze schießen (s. h. Foto unten). Hier wird sowohl die Bedeutung des ursprünglichen Drehbuchtitels "Töte Hitler" wie auch die von Komm und sieh klar. Letzterer Titel zitiert einen aus der Offenbarung des Johannes entnommenen, mehrfachen Ausruf, der dazu einlädt, sich die Verheerung durch die vier apokalyptischen Reiter anzusehen.
Wenn man einer weiteren Legende des Films Glauben schenken will, so färbten sich die Haare Aleksey Kravchenko gegen Ende der Dreharbeiten tatsächlich grau, trotz ärztlicher Hilfe und Unterstützung durch das Filmteam.
Wer Idi i smotri gesehen hat, hat selbst für die Laufzeit von beinah zweieinhalb Stunden in einen schwarzen Abgrund geblickt, welcher sich gleich vom Beginn an vor den Augen des Publikums auftut. Da spielt der noch vollends naive Florya mit einem weiteren Kind im Dreck und das jüngere, mit einem Stahlhelm und Armeemantel bekleidete, geht ganz in der Rolle eines deutschen Wehrmachtssoldaten auf, der krude Obszönitäten brüllt und zähnefletschend durch die Natur streift. Zusammen mit Florya muss man zum Ende des Films feststellen, dass die Bestialität des Kriegs jede noch so brutale Kinderfantasie mitunter bei Weitem übertrifft.

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Fazit: Selten hat mich ein Film so betroffen gemacht wie dieser. Unvergessliche Bilder, die sich auf Netzhaut und Hirnrinde unlöschbar einbrennen - was einmal gesehen wurde, kann nie mehr ungesehen werden.










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Punktewertung: Ein schonungsloses Meisterwerk in jeder Hinsicht: 10 von 10 Punkten.