Egal ob Exploitation, Gialli, Horror oder Sci-Fi...
Von Grindhouse bis Arthouse...
Besprechungen übersehener, unterbewerteter oder obskurer Werke der Filmgeschichte!

Freitag, 8. Februar 2013

Idyll mit kleinen Unschuldsengeln

Innocence
B/F/UK/J 2004
R.: Lucile Hadzihalilovic


Worum geht's?: Ein Mädcheninternat umgeben von einer hohen Steinmauer, inmitten eines Waldes.
Neuankömmlinge werden in einem Sarg hereingebracht, Fluchtversuche werden grausam bestraft.
Die Älteren gehen des Nachts einer geheim gehaltenen Arbeit nach: sie tanzen ein unschuldiges Ballet vor einem unsichtbaren Publikum.
Die einzigen Erwachsenen innerhalb des Schulsystems sind zwei junge Lehrerinnen (Marion Cotillard und Hélène de Fougerolles), welche sich ständig am Rande einer schweren Depression befinden und zwei alte, gebrechliche Frauen, die für die Kinder kochen.
Einmal im Jahr erscheint die joviale Direktorin (Corinne Marchand) und wählt eines der Mädchen aus, das Internat vorzeitig zu verlassen. Alice (Lea Bridarolli) wünscht sich nichts lieber, als dieses Mädchen zu sein.
Bianca (Bérangère Haubruge) wird bald das Alter erreicht haben, an dem man die Schule verlassen muss.
Was erwartet die Mädchen jenseits des hohen Walls ?
Welche Geheimnise lauern in den feuchten Tunneln unter den Gebäuden?
Ist die Schule eine verwunschene Zuflucht jenseits der Zeit oder ein bedrohliches Gefängnis voller Unheil?

Wie fand ich's?: Regisseurin Lucile Hadzihalilovic widmet diesen Film im Abspann ihrem Kollegen Gaspar Noé, an dessen Filmen Carne (F 1991), Seul contre tous (F 1998 dt.: Menschenfeind) sowie Enter The Void (F/BRD/I/CAN 2009) die junge Frau zuvor mitgearbeitet hatte.
Anders als ihr Kollege Noé verzichtet Hadzihalilovic aber auf allzu provokante Szenen oder den Einsatz von quillenden Körperflüssigkeiten. Stattdessen setzt man bei Innocence auf visuelle Brillanz (die Kamera bediente Benoît Debie, der dies auch für Noé bei Irréversible [F 2002] tat) und eine verstörende Atmosphäre unterstützt durch einen eigentümlichen Score.
Der Film basiert auf einem Romanfragment des deutschen Dramatikers Frank Wedekinds (*1864, †1918) namens Mine-Haha oder über die körperliche Erziehung der jungen Mädchen, welches 1903 veröffentlicht wurde und in dem Wedekind einmal mehr seiner Wut über repressive Erziehung und unterdrückte Sexualität Luft machte, wie er es auch bereits 1891 in seinem bekannten Drama Frühlings Erwachen tat.
Wie Wedekinds Novelle lässt auch Innocence verschiedene Deutungsmodelle zu. So kann man in dem Film sowohl einen deprimierenden Horrorfilm sehen, wie auch eine subtile Satire oder eine surreale Farce.
Das Cover der britischen DVD von Artificial Eye vergleicht den Film mit einer Mischung aus Bunuel, Angela Carter und Enid Blyton, wobei mir persönlich gerade das Enid-Blyton-Element etwas zu kurz kommt.
Das Drehbuch wechselt zweimal im Laufe der Handlung seine zentrale Hauptfigur und macht es dem Zuschauer so etwas schwer, sich mit einem der jungen Mädchen zu identifizieren (erst recht, wenn noch der Geschlechtsunterschied zusätzlich im Wege steht), außerdem vermisste ich schlussendlich dann doch etwas den großen Aha-Effekt.
So bekommt man zwar einen wunderbar fotografierten Film voller erinnerungswürdiger Szenen, der aber leider am Ende doch etwas zu wenig aufregend daherkommt und sein Publikum beim zweiten Sehen auch nicht mehr über die etwas unnötig lange Laufzeit von fast zwei Stunden hinwegtäuschen kann.
Interessanterweise entstand bereits ein Jahr nach Innocence eine zweite Verfilmung des Wedekind Stoffs mit dem Titel The Fine Art of Love: Mine Ha-Ha (I/GB/CZ 2005). Dieses Werk des Briten John Irvin zeigt Jaquelline Bisset als Schulleiterin und harrt wie sein Vorgänger ebenfalls einer deutschen DVD-Veröffentlichung.

Fazit: Ebenso faszinierend wie diskussionswürdig. Trotzdem hätten ruhig gut zehn bis zwanzig Minuten der Schere zum Opfer fallen dürfen.

Punktewertung: 7,75 von 10 Punkten