BRD/I 1971
R.: Thomas Schamoni
Worum geht's?: Tom X (Klaus Lemke), ein junger Dichter, erzählt bei einer ausgelassenen Party seinen Freunden vom ebenfalls anwesenden Herrn Belotti (Walter Ladengast), einem verstörten, älteren Herrn, der vor Jahrzehnten eine Weltformel entwickelt haben soll.
Aufmerksam geworden, versucht Toms Freund G.O. (Thomas Braut), seines Zeichens Journalist, die Story zu verkaufen, ruft jedoch bei dem Versuch auch eine zwielichtige Gruppe von Gangstern oder Geheimdienstlern auf den Plan.
Unter der Leitung des im Rollstuhl sitzenden Cinque (Lukas Amman) suchen diese ebenfalls nach der Formel und nach Belottis Kollegen, die den Schlüssel zu der in einem Gedicht von Arthur Rimbaud versteckten Erfindung besitzen.
Ständig gefilmt von ihrem Freund Knokke (Bernd Fiedler), machen die Gruppen Aufnahmen von ältliche Passanten; immer auf der Suche nach den nun im Versteckten lebenden Wissenschaftlern - scheinbar wissend, dass sich alle Geheimnisse nur auf Film entblößen.
Realität und Fiktion, Poesie und Paranoia, Gut und Böse verschwimmen. Ein manisches Lachen beendet das verwirrende Schauspiel.
Wie fand ich's?: Ein Film, der mit der Vorführung eines Films anfängt, ein Debüt, in das seine Macher wie so oft alle Ideen auf einmal stopften, als gäbe es kein nächstes Mal.
Thomas Schamoni hat nur wenige Filme als Regisseur geschaffen, bekannter wurde er als Gründer des Filmverlags der Autoren, der in den ersten Jahren aus seiner Privatwohnung heraus agierte.
Klaus Lemke, heute selbst eine Kultfigur des deutschen Films, spielt die Hauptrolle; Robert Siodmak, ebenfalls eine Regielegende, ist zwei Jahre vor seinem Tod hier noch in einem Cameo zu sehen.
Schamonis Film ist ein surrealer Krimi, ein verwirrender Thriller mit Elementen der Mabuse-Filme, der wie Jaques Rivettes Debüt Paris nous appartient auch die Verunsicherung junger Intellektueller in Zeiten des Kalten Krieges und der Studentenrevolten abbildet. Wo Rivette jedoch eine Dekade zuvor ein bedrückendes, langsames, schwarz-weisses Drama ablieferte, da schwirrt Schamonis Film vor Bildern und Eindrücken, vor schnellen Schnitten und einer fast stets unruhigen Tonspur. Anders als Rivette bietet Ein großer graublauer Vogel Action und Schießerei ist also auch ein Genrefilm (oder gibt zumindest vor es zu sein), verstört aber seine Zuschauer mit weiteren Metaebenen.
Kann es sein, dass sich zunächst alles nur im Kopf des Dichters, des wilden Kreativen abspielt und sich das Interesse der Gegenseite nur aus dessen Fiktion nährt? Will der Journalist G.O. also nur eine Fantasterei seines Freundes verkaufen? Doch wenn der heruntergekommene Alte namens Belotti nur ein armer Spinner ist, wer sind dann Cinque und die distinguierten Herren am Ende des Films? Soll das Gedicht Rimbauds mit dem Titel Bottom, aus welchem sich auch der Titel des Films ableitet, und in dem sich eine Formel zur Zeitreise (?) versteckt halten soll, nur ein von Tom X oder Thomas Schamoni geschaffener McGuffin sein?
Der Film beantwortet seine Fragen nicht, weist stattdessen ununterbrochen darauf hin, dass die Realität eine andere Ebene erhält, wenn man sie abfilmt. Pausenlos hält irgendjemand eine Kamera in der Hand oder man sieht Filme im Film - eine ständige Selbstreflexion über das eigene Medium.
Das für den Soundtrack gewählte Lied She Brings The Rain der Krautrocker Can erzählt von Magic Mushrooms - also doch alles nur ein Drogenrausch?
Trotz aller Wirrnisse gelang Schamoni ein unterhaltsames, handwerklich unglaublich selbstsicheres Debüt, das keine Sekunde langweilt und noch heute sehr modern und frisch erscheint.
1970 erhielt Schamoni für die Regie zu Ein großer graublauer Vogel das Filmband in Gold, ebenso wie sein Kameramann Dietrich Lohmann; weiterhin erhielt der Film das Prädikat Wertvoll von der Filmbewertungsstelle.
Das bereits erwähnte Gedicht Bottom von Rimbaud (der auch Dylan und zuvor die Surrealisten beeinflusst haben soll) beginnt mit den Worten: Reality being too thorny for my great personality (etwa: Realität ist zu dornig für meine große Persönlichkeit). Vielleicht erklärt dies nun doch noch alles...
Fazit: Ein wilder Trip auf Zelluloid. Ein Spiel mit Fiktion und Realität, dessen Interpretation beim jeweiligen Betrachter liegt.
Punktewertung: 8,5 von 10 Punkten