F 1961
R.: Jacques Rivette
Worum geht's?: Anne (Betty Schneider), eine junge Literaturstudentin, trifft auf einer Party einiger Pariser Intellektueller den angespannten Amerikaner Philip (Daniel Crohem), einen Journalisten, der die Staaten wegen des anhaltenden McCarthyismus verlassen haben soll. Dieser berichtet vom Tod des Musikers Juan, eines Spaniers, der mit einem Messer im Bauch in seiner Wohnung aufgefunden wurde - ob es Mord oder Selbstmord war, konnte man nicht mit Sicherheit feststellen.
Ebenfalls bei der Geselligkeit anwesend sind der Theaterregisseur Gerard (Giani Esposito), der gerade ohne jegliches Budget eine Off-Off-Aufführung von Shakespeares Perikles, Prinz von Tyrus zu Stemmen versucht und dessen kalt und abweisend wirkende Geliebte Terry (Françoise Prévost), die ebenfalls aus den Staaten stammt.
Vom charmanten Gerard prompt angezogen, tritt Anne der Theatergruppe bei, wird aber alsbald vom immer nervöser wirkenden Philip vor einer im Gange befindlichen Verschwörung gewarnt, die bereits Juan das Leben gekostet hat und nun auch Gerards Existenz gefährdet.
Auf eigene Faust und ohne wirkliche Unterstützung durch ihren etwas phlegmatisch wirkenden Bruder Pierre (François Maistre) will die junge Frau in ihrem Umfeld die wahren Umstände des vorzeitigen Todes Juans ermitteln, zumal dieser eine, nun verschwundene, Aufnahme einer von ihm selbst komponierten Filmmusik für Gerards Periklesstück in seinem Besitz hatte.
Doch umsomehr Anne selbst an eine Verschwörung zu glauben beginnt, desto verschwommener, aber drängender, werden die Hinweise aus ihrer Clique.
Ist Anne möglicherweise nur ein Opfer der Paranoia ihrer Umgebung, oder plant tatsächlich ein obskurer Feind seit Langem einen mörderischen Plot gegen die Pariser Bohème?
Wie fand ich's?: Bereits 1957 begann der, wie seine Freunde und Kollegen Truffaut, Godard und Chabrol zuvor für Cahiers du Cinéma als Kritiker tätige Jaques Rivette mit den Arbeiten zu seinem Langfilmdebüt. Damit sollte Paris nous appartient auf dem Papier zu den zuerst begonnenen Beiträgen der Nouvelle Vague gehören, doch bedurfte es schnell der finanziellen Hilfe seiner Kumpels Truffaut und Godard um den Film fertigzustellen, welche mit Les quatre cents coups (F 1959 R.: François Truffaut dt.: Sie küssten und sie schlugen ihn) und À bout de souffle (F 1960 R.: Jean-Luc Godard dt.: Außer Atem) zwar später gestartet waren, aber früher bei der Kritik und an den Kinokassen einschlugen und somit sowohl bei guter Laune als auch vermögend genug waren, dem Mitstreiter unter die Arme zu greifen. So arbeitete Rivette über drei Jahre lang an der Fertigstellung des Films, ständig bemüht Gelder aufzutreiben und seinen Cast bei der Stange zu halten, während Godard, Truffaut und Chabrol bereits Erfolge feierten und mit Preisen für ihre Werken überhäuft wurden.
Die Figur des leidenschaftlichen Theaterregisseurs Gerard, der gegen alle Widrigkeiten versucht seinen Perikles nach seinen Vorstellungen auf die Bühne zu bringen, mag also ein direktes Selbstbildnis Rivettes sein, und es grenzt an Galgenhumor, das eben jene Figur die Filmhandlung nicht überlebt. Außerdem gibt Gerard sehr früh im Film zu, dass Perikles (ein Stück zudem, dessen Autorenschaft nur zum Teil Shakespeare zugeschrieben wird und das in dessen Gesamtwerk als eher zweit- bis drittrangig klassifiziert wird) eigentlich in seiner fragmentarischen Erzählweise kaum für die Bühne geeignet ist. Ein weiterer bemerkenswerter Fall von Selbstreflexion, bemerkt der Zuschauer wohl schnell Rivettes Hang zu langen, vom Hauptplot abschweifenden Spielszenen, die teilweise improvisiert und aus dem Stegreif entstanden daherkommen und die Thrillerhandlung mehrfach (gewollt) unterbrechen und ausbremsen. Rivette sollten diesen Stil 1971 in seinem Mammutwerk Out 1 (F 1971) bis zum Exzess ausleben, einem weit über zwölf Stunden langen Opus, in dem (wer hätte das gedacht?) Theaterproben eine übergeordnete Rolle spielen...
Nimmt man den "spannenden" Teil von Paris nous appartient unter die Lupe, so erkennt man Motive, welche zum einen an Fritz Langs Mabuse-Filme (D/BRD 1922, 1933, 1960), zum anderen an den Film Noir, die Schwarze Serie, erinnern. Bei Lang (dessen Metropolis kurz ausschnittweise im Film auftaucht) findet man Paranoia und die Angst vor unheimlichen, omnipotenten Verschwörern, die auch die Intellektuellen bei Rivette zu bedrohen scheinen; im Film Noir tritt zudem immer wieder die Femme Fatale auf, jene mitunter tödliche Verführerin, deren Äquivalent in Paris nous appartient in der Figur der kühlen Amerikanerin Terry auftritt, eben jener Figur, die bis zum Schluss mehr zu wissen weiß als alle anderen und den Männern allein dadurch gefährlich wird, weil sie ihnen den Kopf verdreht.
Irgendwo habe ich einmal gelesen, dass Rivette seine Hauptdarstellerinnen stets mit besonderer Liebe in Szene gesetzt hat und das lässt sich eben so hier wie auch z. B. in Céline et Julie vont en bateau - Phantom Ladies over paris (F 1974 dt.: Céline und Juli fahren Boot) erkennen, wobei ich hier etwas reumütig gestehen muss, diesen 2005 in einem OFDb-Kurzreview sehr ungerechtfertig mit 5 von 10 Punkten abgehandelt zu haben... Egal, Betty Schneider ist wunderbar als ebenso fragile wie beharrliche Hobbydetektivin, die herausfinden muss, dass die größten Verschwörungen immer im Kopf stattfinden und das wahre Böse oft ebenso banal wie profan ist. Leider war dies der vorletzte Kinoauftritt der Dame, welche bereits mit Tati, Belmondo und Ventura in Nebenrollen vor der Kamera gestanden hatte.
Paris nous appartient ist mit seinen von vager Paranoia infizierten, entweder phlegmatisch in Straßencafés herumsitzenden oder euphorisch und engagiert dahinfiebernden Bohemiens natürlich auch ein Film seiner Zeit und deren Ängste. McCarthys Kommunistenjagd und die Hollywood Ten waren auch noch Ende der fünfziger Jahre präsent genug im Gedächtnis junger Intellektueller und es wird in einer Szene des Films sogar etwas sarkastisch direkt Bezug auf den 1957 verstorbenen McCarthy und dessen Beerdigung genommen.
Genauso sarkastisch ist der Titel des Films zu verstehen, dem direkt ein Zitat von Charles Péguy entgegen steht, was besagt, dass Paris gar niemandem gehöre. Zwar zeigt Rivette im Laufe der Handlung einige Wahrzeichen der Stadt, doch bleiben dem Zuschauer eher die spärlich möblierten Zimmer Annes und Philips im Gedächtnis oder die leeren Hausflure und Hintertreppen, in und auf denen viele Dialoge stattfinden.
Am Ende scheint dann doch noch etwas verhaltener Optimismus durch, wenn einer von Annes Mitstreitern aus der Theatergruppe sein Vorhaben äußert, weiterhin das Stück proben und aufführen zu wollen. Vielleicht sah der so vom Theater begeisterte Rivette ja zu diesem Zeitpunkt für seine eigenen, langwierigen Dreharbeiten endlich ein Licht am Ende des Tunnels...
Fazit: Ein leicht depressiver Trip durch die Seinemetropole, mithin mäandernd und dahindriftend, aber stets faszinierend und beinah hypnotisch.
Punktewertung: 9,5 von 10 Punkten