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Von Grindhouse bis Arthouse...
Besprechungen übersehener, unterbewerteter oder obskurer Werke der Filmgeschichte!

Dienstag, 10. Juli 2018

Liszt und Tücke

Lisztomania
GB 1975
R.: Ken Russell


Worum geht’s?: Mitte des neunzehnten Jahrhunderts wird der Komponist Franz Liszt (Roger Daltrey) wie ein pianospielender Messias verehrt.
Auf Konzerten fordern seine größtenteils minderjährigen Fans lautstark den Flohwalzer, während der Star das Publikum während der Performance nach ebenso willigen, wie finanziell wohlgestellten, Groupies absucht.
Doch nicht nur Frauen und Fans suchen die Nähe des flamboyanten Künstlers, auch der deutsche Nachwuchskomponist Richard Wagner (Paul Nicholas) rückt Liszt backstage auf die Pelle und schiebt diesem eigene Kompositionen zur freien Verwendung zu. Allerdings verprellt der nassforsche Liszt den zunächst noch wie Donald Duck im Matrosenanzug passiv-aggressiv umherwuselnden Wagner, der mit seiner Komposition das deutsche Volk einen will und auf die Ankunft eines übermächtigen (An-)Führers vorbereiten möchte.
Da gibt sich der Pazifist Liszt doch lieber den Damen hin, verliebt sich im fernen Russland (wo Pete Townsend als Ikone zu Recht in jeder guten Stube hängt) in eine Prinzessin (Sara Kestelman) und pilgert wenig später nach Rom um beim Papst (Ringo Starr - wer sonst?) seine Ehe mit Marie d'Agoult (Fiona Lewis) anulieren zu lassen.
Liszt verfällt dort der sakralen Musik, treibt es bunt mit einer Nonne (Nell "Columbia" Campbell) und muss vom Heiligen Vater persönlich erfahren, dass sein Kollege Wagner, nun Ehemann seiner Tochter Cosima (Veronica Quilligan), der Antichrist persönlich ist und an der Erschaffung einer Herrenrasse arbeitet.
Besorgt macht sich Franz zur Feste Wagners auf, um das Schlimmste zu verhindern, doch hat der Deutsche bereits mit der Arbeit an einem künstlichen Menschen (Rick Wakeman) begonnen und zahlreiche Kinder zu seinem fanatischen Gefolge gemacht ...

***

Wie fand ich’s?: Direkt im Anschluss an seine opulente Verfilmung des Kultalbums Tommy (GB 1975) von und mit The Who, griff sich Regisseur Ken Russell deren exaltierten Star und Frontmann Roger Daltrey um ein gänzlich auf eigene Ideen fußendes Projekt umzusetzen.
Wie bereits der Vorgänger ist auch Lisztomania – der Titel bezieht sich auf ein von Heinrich Heine noch zu Lebzeiten des Künstlers geschaffenes Kunstwort – eine wilde, episodenhafte Ansammlung von skurrilen Szenen und aberwitzigen Ideen, welche anscheinend einem langen LSD-Rausch entstammen zu scheinen, und auch während und nach Ansicht des Films den Zuschauer einen solchen direkt nachempfinden lässt.
War Tommy eine auf Townsends Kompositionen und Texte basierende fiktionale Rockoper, die, wenn auch in durchaus surrealen Bildern, ein kohärentes Melodram erzählt, so hebt Lisztomania mit seinen historischen Figuren bereits im infantilen Prolog (Liszt wird vom Gatten seiner Geliebten und späteren Mutter seiner Kinder im Boudoir slapstickhaft herumgejagt) in absurde Sphären ab und kommt auch bis zum Abspann nicht mehr herunter.
Auf den chaplinesken Witz des Prologs folgt ein Bühnenauftritt Liszts, der direkten Bezug zur Beatlemania herstellt, eine Episode auf der Krim artet in einen bunten Sexrausch aus, bei welchem ein überdimensionierter Phallus als Reitgerät für mehrere Personen dient und gen Ende begibt man sich gar in die Gefilde von Gothic-Horror und Mad-Scientist-Story.
Wenn dann Liszt per Orgelsteuerung aus einem durch Liebe angetriebenen Jet, der primärfarbene Kondensstreifen hinter sich herzieht, ein Mischwesen zwischen Frankenstein und Hitler aus der Luft beschießt, welches gerade selbst dabei ist, ein jüdisches Getto mit einer Flammen verschießenden Gitarre (Mad Max: Fury Road, anyone?) in Schutt und Asche zulegen, fragt sich der geistig gesunde Rezipient, was da vor und besonders hinter den Kameras für Unmengen an bewusstseinserweiternden Stoffen in den Blutkreisläufen gewesen sein müssen.
So ist Lisztomania vielleicht Russells wildestes Werk: eine gänzlich entfesselte Vision, welche wohl nicht zuletzt Wagnerfans vor die Köpfe stößt, sondern für ein nüchternes, unvorbereitetes  Mainstreampublikum beinah einer Zumutung gleichkommen muss.
Gerüchte besagen, dass Russell Pete Townsend um einen Soundtrack gebeten hatte, dieser allerdings nach der Arbeit an Tommy  eine Auszeit nehmen wollte, sodass Rick Wakeman, der stets Glitzerumhang bewehrte Keyboarder der Progrocker Yes erstmals für Russell tätig wurde und als künstlicher Übermensch Thor auch mit Umhang eine kleinere Rolle im Film übernehmen durfte. Fast ein ganzes Jahrzehnt später konnte Wakeman dann noch mal bei Russells Crimes of Passion (USA 1984 dt.: China Blue bei Tag und bei Nacht) Hand anlegen und den mir immer noch im Gehörgang steckenden Ohrwurm It's a Lovely Live zum Soundtrack beisteuern.
Dass allerdings Hauptdarsteller Roger Daltrey nicht unbedingt zum Schauspieler geboren wurde, kann wohl jeder bestätigen, der seine buchstäblich blutleere Darbietung eines Vampirs in Jim Wynorskis ohnehin verko(r)kster Vampirella-Adaption (USA 1996) gesehen hat. Traumwandelte Daltrey noch irgendwie durch Tommy, so muss man jedoch bei Lisztomania eingestehen, dass er hier seinem Affen mitunter durchaus Zucker gibt und mit sichtbarem Spaß bei der Sache ist.

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Fazit: Wer sich mal fühlen will wie Obelix, der gerade kopfüber in einen großen Topf voll LSD gefallen ist, kommt hier voll auf seine Kosten. Alle anderen dürfen sich kopfschüttelnd wundern, was einmal im Kino möglich war - so etwas (wie Russell) kommt vermutlich erst mal nicht so schnell wieder ...


Punktewertung: 7,25 von 10 Punkten