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Von Grindhouse bis Arthouse...
Besprechungen übersehener, unterbewerteter oder obskurer Werke der Filmgeschichte!

Mittwoch, 29. August 2018

Die Untätigkeit der Verschwörer

Out 1: noli me tangere
F 1971
R.: Jacques Rivette


Worum geht's?: Paris nach den Studentenunruhen von '68.
Zwei Theatergruppen proben unabhängig voneinander ihre griechischen Dramen, während zwei junge Trickbetrüger (Juliet Berto und Jean-Pierre Léaud) ebenso unabhängig auf die Spur der Verschwörung der "Dreizehn" gebracht werden.
Darin verwickelt scheint zum einen der Chef der einen Theatergruppe, Thomas (Michael Lonsdale), ein zurückhaltender Intellektueller, der - ganz Libertin - Verhältnisse zu gleich mehreren Frauen pflegt, und zum anderen die junge Marie (Hermine Karagheuz), die in der anderen Gruppe unter der Leitung von Thomas' früherer Partnerin Lili (Michèle Moretti) spielt.
Marie ist es, die dem introvertierten Colin (Léaud) kryptische Texte zusteckt, während dieser in Cafés als vermeintlich Taubstummer den Gästen mit seiner Mundharmonika so lange auf den Geist geht, bis diese etwas Kleingeld rausrücken. In seiner übersichtlichen Behausung entschlüsselt Colin den aus Fragmenten von Balzacs "Die menschliche Komödie" und Carrols "The Hunting of the Snark" zusammengesetzten Code und stromert fortan auf der Suche nach den obskuren "Dreizehn" durch die Straßen der Hauptstadt, bis er in einem kleinen Ladencafé namens L'Angle du Hasard (dt.: Der Winkel des Zufalls), dass auch als Jugendtreffpunkt dient, einen der Treffpunkte der Verschwörer zu erkennen glaubt.
Nebenbei entwendet seine "Kollegin" Frédérique (Berto) bei einer ihrer, dem "Beischlafdiebstahl" nahekommenden Betrügerei, eine Reihe von Briefen, die ebenfalls auf die "Dreizehn" schließen lassen und worin sogar "weltzerstörerische" Absichten geäußert werden.
Die verspielte, junge Diebin versucht, mehr als stylishes Statement denn mit Ernst dabei als Mann verkleidet, die Briefe den darin genannten Personen zurückzuverkaufen.
Das Leben, die Kunst und die Liebe nehmen derweil natürlich weiterhin ungebremst ihren Lauf, und am Ende ist ein Menschenleben auf der Strecke geblieben, während andere weiterhin auf der Stelle treten oder Entscheidungen getroffen haben, die ihr Leben grundsätzlich verändern werden.

***

Wie fand ich's?: Welch ein Vorhaben - welch eine filmische Großtat! Beinah zwölfeinhalb Stunden Zeit nimmt sich Jacques Rivette (*1928; 2016), um seine Vision eines zum Großteil an jedem Drehtag frei dahin improvisierten Films zu verwirklichen.
Gedreht wurde in nur sechs Wochen in Paris und im 14. Departément Calvados mit Blick auf den Ärmelkanal. Oft starren unvorbereitete Passanten einfach in die Kamera - einmal wird Jean-Pierre Léaud, das all umjubelte, von Truffaut entdeckte, Wunderkind der Nouvelle Vague, von spielenden Kindern durch die Straßen der Seine-Metropole verfolgt, während er wie besessen aus einem Buch zitiert und durch die Gegend stapft.
Die Gegend: das ist das Paris, wie man es zu Beginn der 70er vorfand, ungeschönt und realistisch. Insgesamt lässt sich sagen, dass Rivette die Sets hier nie groß ausstattet, die meisten Innenräume wirken eher karg und pragmatisch, lediglich beim Set des L'Angle du Hasard kommen vermehrt einige Farben und Details stärker zur Geltung. Bei Außenaufnahmen scheut sich Rivette jedoch nicht seine Darsteller vor einigen Postkartenmotiven zu platzieren, an denen jedoch stets auch das urbane Leben klar zur Geltung kommt.
Erneut finden sich auch hier Rivettes bereits seit seinem Filmdebüt Paris nous appartient (Paris gehört uns) behandelte Lieblingsthemen, die da wären: seine Liebe zum Theater und die Ahnung von einer im Untergrund dräuenden Verschwörung, deren Sinn und Vorhaben allerdings nie wirklich klar wird.
Daneben spielt er mit Doppelungen und Spiegelungen: es gibt jeweils zwei Theatergruppen, zwei Trickbetrüger, (anscheinend) zwei im Verborgenen tätige kriminelle (?) Organisationen und Bulle Ogiers Figur trägt für die einen den Namen Pauline und für die anderen die Bezeichnung Emilie.
Out 1 schwankt ständig zwischen (neo-)realistischem Gesellschaftsporträt, dokumentarischem Ansatz bei den  improvisierten Theaterproben, modernem Großstadtmärchen, paranoidem Verschwörungsthriller und gibt das Zeitgefühl eines (jugend-)gesellschaftlichen Aufbruchs auf der einen und einen Verfall in Starre und Untätigkeit auf der Anderen wieder.
Inwieweit Out 1 dabei auch direkt von den Auswirkungen des Pariser Mais und dem Zusammenbruch der studentischen und proletarischen Protestbewegungen beeinflusst ist, lässt sich von außen im Nachhinein dezidiert wohl kaum mehr sagen, es bietet sich jedoch stark auch die Interpretationsebene an, die Verschwörer in den bei der Zerschlagung der Aufstände tätigen Personen zu sehen, zumal im Film explizit darauf hingewiesen wird, dass die "Dreizehn" zum Handlungszeitpunkt seit zwei Jahren bereits inaktiv dahindämmern. Ebenfalls nicht ohne Reiz ist es, die ehemaligen Verschwörer als die nun demotivierten Exprotestler zu begreifen, welche nach den Unruhen in eine Art der Stockstarre verfallen sind.
So ist Out 1 ein filmisches Puzzle aus vielen unterschiedlichen Elementen von beachtlicher Länge, welches in der mit dem Zusatz Noli Me Tangere (ein lateinisches Bibelzitat aus Joh 20,17, welches man mit "Rühre mich nicht an" übersetzen kann) versehenen Urfassung nahezu dreizehn (die Zahl des Films) Stunden Lauflänge erreicht.
Bereits ein Jahr später sollte Rivette, frustriert von den Möglichkeiten zur Aufführung der Ursprungsfassung, das opulente Gesamtwerk radikal auf vier Stunden herunterkürzen, und dieser Version den Zusatz Spectre (dt.: Spektrum aber auch: Phantom, Geist, Schattenerscheinung) geben.
Beide Schnittfassungen sind sowohl in der deutschen, wie auch in der (vom Preis-/Leistungsverhältnis her besseren) britischen Blu-ray-/DVD-Veröffentlichung enthalten.

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Fazit: Ein üppiges Fest für alle Freunde der Nouvelle Vague. Locker leicht trifft hier Anspruch auf spielerische Experimentierfreude - c'est si bon!


Punktewertung: 8,75 von 10 Punkten